Von Martin Graf
Ein Blättern in seit rund 40 Jahren unberührt gebliebenen Kartonschachteln mit Dokumenten aus der Zeit des studentenpolitischen Engagements des Verfassers in den Jahren 1974–1981 weckt einige Erinnerungen![1] Der erste und vorherrschende Eindruck dieser Lektüre ist derjenige einer grundlegenden Politisierung, welche die Studierenden in jener Zeit erfasst hat – natürlich nicht alle, wohl auch nicht die Mehrheit, aber einen wesentlichen Teil der Studierenden. Am besten lassen wir den Originalton eines Flugblattes sprechen: «Die Universität steht, ob sie will oder nicht, in keinem politischen Freiraum. Hier wird ein Grossteil der zukünftigen geistigen, wirtschaftlichen und politischen ‘Élite’ der Gesellschaft produziert; hier werden die herrschenden Ideologien reproduziert – oder in Frage gestellt. Wollen wir Fachidioten werden, uns zum Beispiel so als Lehrer ausbilden lassen, dass wir unkritisch die herrschenden Denkweisen an kommende Generationen weitervermitteln (…)? Oder als angehende Ökonomen und Betriebswirte nur lernen, wie wir den kapitalistischen Betrieb perfektionieren und den Arbeiter im Garn eines ‘progressiven Managements’ einlullen können? Oder als Juristen nur lernen, wie man bestehendes Recht anwendet, nicht aber, dass jedes Recht historisch geworden und somit veränderbar ist?». Die Professorenschaft erlebte man entweder als vorgeblich apolitisch, einer angeblich wertfreien Wissenschaft huldigend, oder aber als rechtsbürgerlich-autoritär, geprägt durch geistige Landesverteidigung und kalten Krieg. Demgegenüber setzte man sich ein für die Vermittlung alternativer Lehrinhalte und musste dabei erleben, dass in zahlreichen Berufungsverfahren qualifizierte Kandidaturen nur deswegen übergangen wurden, weil sie aus bürgerlicher Sicht politisch unerwünscht waren – das wurde so ganz offen eingestanden.
Nicht nur die Inhalte, sondern auch die Formen des Lehrbetriebs gaben zu Kritik Anlass. «Bologna» war zu dieser Zeit noch bloss eine sympathische Stadt in der roten Emilia-Romagna. Bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre war aber der Einsatz gegen die Verschulung des Lehrbetriebs ein zentrales Schlagwort der Studierendenbewegung. Diese Verschulung war Folge einerseits der stark steigenden Studierendenzahlen, andererseits der wirtschaftlichen Rezession der 1970er Jahre. Die technokratische Hochschulbürokratie wollte den drohenden, aber im schweizerischen Föderalismus nur schwierig umzusetzenden Numerus clausus mit einer verschärften inneruniversitären Selektion abwenden. Wer die Universität aber nicht als blosse Berufsschule sehen wollte, musste die Verschulung vor allem als Beschränkung der für eine emanzipatorische Wissenschaft unerlässlichen Freiräume empfinden.
Selbstbestimmung und Mitbestimmung waren die zentralen Motive der politisch aktiven Studierenden dieser Zeit. Individuelle Selbstbestimmung, das Aufbrechen gesellschaftlicher Zwänge lag im allgemeinen Zeitgeist der «Nach-68er». Kollektive Selbstbestimmung als Selbstverwaltung der Studierendenschaft wurde in der ersten Hälfte der 1970er Jahre wichtig. Während die linken Studierenden der «ersten Stunde» (z.B. das «Forum politicum» in Bern) sich von den Institutionen noch bewusst ferngehalten hatten, eroberten die sich anfangs der 1970er Jahre bildenden parteipolitischen Gruppierungen der studentischen Linken in Basel, Bern und Zürich die Mehrheit in den demokratisch verfassten Studierendenschaften mit Mitgliedschaft aller Studierenden. Diese linken Studierenden mussten nun allerdings eine prägende demokratiepolitische Erfahrung machen: Die herrschenden Kreise tolerieren Demokratie nur so lange, als sie selbst die Mehrheit haben. Solidarität der Studierenden mit Ungarn 1956 und der Tschechoslowakei 1968 war erwünscht, Solidarität mit Vietnam oder Chile war nicht mehr erwünscht. Die Repression war massiv, nach heutigen Massstäben nur schwer vorstellbar. Sie richtete sich sowohl gegen die Institutionen der Studierenden wie auch gegen Einzelne. Die Studierendenschaft als repräsentative und demokratisch gewählte Interessenvertretung mit Mitgliedschaft aller Studierenden wurde in Basel und Zürich aufgelöst (als Ersatz bildeten sich privatrechtliche Vereine mit einem Bruchteil der früheren Mitglieder); in Bern durfte sie über ihre Gelder nicht mehr selbstständig verfügen. In Bern wurden angebliche Rädelsführer einer Besetzung des soziologischen Instituts zu (teils unbedingten!) Gefängnisstrafen verurteilt und von der Uni relegiert; die Immatrikulation eines von einem Militärgericht wegen «Meuterei» verurteilten Studenten wurde mit einer Quasi-Zweitstrafe aufgeschoben (diese Massnahme hatte allerdings später vor dem Bundesgericht keinen Bestand).
Auch innerhalb der Studierendenbewegung herrschten in diesen Jahren ruppige Umgangsformen. Kampfwahlen und auch Abwahlen waren an der Tagesordnung. Bereits vor Ausbruch der Jugendunruhen von 1980 forderten antiinstitutionelle «Basisbewegungen» die «etablierten Funktionäre» in den Organen der Studierendenschaften heraus: Diskussionen in spontanen Basisversammlungen oder (häufig aufreibende) Kleinarbeit in repräsentativen Interessenvertretungsorganen?
Was hat die Studentenbewegung in den 1970er Jahren erreicht? Konkrete Erfolge waren selten. Eine nachhaltigere Wirkung dürfte die politische Bewusstseinsbildung eines Teiles der Studierenden gehabt haben, im Sinne des eingangs angeführten Flugblatt-Zitates. Viele politisch aktive Studierende haben später ihren «langen Marsch durch die Institutionen» angetreten. Dabei haben die Prägungen durch die Studierendenbewegung der 1970er Jahren in im Einzelfall mehr oder minder starkem Masse nachgewirkt. Die politischen und gesellschaftlichen Auswirkungen dieser Prägungen sind nicht zu unterschätzen!
[1] Naturgemäss sind diese Erinnerungen subjektiv geprägt. Der Verfasser war aktiv primär in Bern und in der «Sozialdemokratischen Hochschulgruppe». Andere örtliche und parteipolitische Prägungen dürften zu anderen Akzentsetzungen führen.
Links
Anhang 1979 SHG-Wahlzeitung
Anhang SHG-Liste 6
Martin Graf war im VSS 1978–1979 Mitglied des Vorstandes.