Bildungsgerechtigkeit muss auch für Geflüchtete gelten

Von Ann-Seline Fankhauser 

2015/2016, im Zuge der Flucht­be­we­gun­gen Rich­tung Europa, war die Sol­i­dar­ität mit den Geflüchteten in der Schweiz gross. Auch viele Studierende und andere Hochschu­lange­hörige engagierten sich in ver­schiede­nen zivilge­sellschaftlichen Ini­tia­tiv­en für den Zugang zu Bil­dung von Geflüchteten 

Im Laufe des Jahres 2016 ent­standen erste Pro­jek­te an Hochschulen, die sich für den Zugang zur Ter­tiär­bil­dung für stu­di­en­in­ter­essierte Geflüchtete ein­set­zen. Sei­ther konnten mehr als 600 stu­den­tis­che Geflüchtete als Gasthörende und begleit­et durch Mentor*innen an rund 20 Hochschulen Vor­lesun­gen besuchen. Dem grossen Inter­esse qual­i­fiziert­er Geflüchteter, ein Studi­um in der Schweiz aufzunehmen oder fortzuset­zen, stehen jedoch bis heute zahlre­iche struk­turelle Hür­den ent­ge­gen (ungenü­gende Diplo­man­erken­nung, hohe Sprachan­forderun­gen, fehlende Finanzierung etc.). Die insti­tu­tionelle Unter­stützung durch die Hochschulen und die Inte­gra­tionsak­teur*innen ist ungenü­gend, denn es fehlt weitest­ge­hend an konkreten Vor­bere­itungs- und För­der­mass­nah­men für stu­di­en­in­ter­essierte Geflüchtete. Die stu­den­tis­chen Ini­tia­tiv­en an den Hochschulen leis­ten zwar wichtige Arbeit in Bezug auf die soziale Inte­gra­tion sowie die Verbesserung der Sprachken­nt­nisse der Teil­nehmenden. Zudem ver­mit­teln sie Ken­nt­nisse über das Schweiz­er Bil­dungssys­tem und ermöglichen eine Stan­dortbes­tim­mung sowie eine Chancenein­schätzung in Bezug auf den Stu­di­en­wun­sch. Doch an den unver­hält­nis­mäs­sig hohen Zulas­sungsvo­raus­set­zun­gen - den struk­turellen Hür­den - kön­nen sie nichts ändern. 

Im Ver­gle­ich zur heuti­gen Gle­ichgültigkeit viel­er Bil­dungsin­sti­tu­tio­nen und der offiziellen Schweiz gegenüber den Qual­i­fika­tio­nen, Poten­tialen und Fähigkeit­en von Geflüchteten zeigt ein Blick in die Ver­gan­gen­heit Beispiele eines anderen Ver­ständ­nisses der Hochschulen von ihrer gesellschaftlichen Ver­ant­wor­tung und ihrem öffentlichen Bil­dungsauf­trag. So set­zten sich im Zuge des Ungarn-Auf­s­tandes 1956 Hochschulrek­toren, Studierende und Behör­den gemein­sam für eine koor­dinierte Auf­nahme und Reg­istrierung von geflüchteten ungarischen Studieren­den an Schweiz­er Uni­ver­sitäten ein. Wo die heuti­gen Akteur*innen Ver­ant­wor­tung und Zuständigkeit­en von sich weisen, wurde damals unkom­pliziert und schnell umge­set­zt, was heute vielerorts unmöglich erscheint: Deutschkurse wur­den ange­boten; Semes­terge­bühren erlassen und Stipen­di­en gewährt; wo Diplome und Zeug­nisse fehlten, kon­nten bish­erige Aus­bil­dun­gen durch „ehren­wörtliche Erk­lärun­gen“ deklar­i­ert wer­den. Inner­halb kürzester Zeit kon­nten so mehrere Hundert Geflüchtete aus Ungarn in der Schweiz ihr Studi­um fort­set­zen. 

Wie bere­its erwäh­nt, beruht das heutige Engage­ment, Geflüchteten einen ihrem Potential entsprechen­den Zugang zur Hochschulbil­dung zu ermöglichen, haupt­säch­lich auf der Ini­tia­tive von Studieren­den. Um dieses Engage­ment zu unter­stützen und in der Überzeu­gung, dass ein gle­ich­berechtigter Hochschulzu­gang unab­hängig von Gen­der, sozio-ökonomis­chem Hin­ter­grund oder Aufen­thaltssta­tus gegeben sein muss, set­zt sich der VSS mit dem Pro­jekt Per­spek­tiv­en - Studi­um seit 2016 dafür ein, Bil­dungs­gerechtigkeit auch für stu­den­tis­che Geflüchtete zu gewährleis­ten.  

Das Pro­jekt stellt Infor­ma­tio­nen für stu­di­en­in­ter­essierte Geflüchtete zur Ver­fü­gung und sam­melt Dat­en zu ihrer Situation. Es unter­stützt stu­den­tis­che Pro­jek­te beim Auf­bau, bietet Men­tor*innen­schu­lun­gen an und betreibt Aus­tausch- und Ver­net­zungsar­beit. Der Schw­er­punkt der Pro­jek­tak­tiv­itäten der kom­menden Jahre liegt auf der poli­tis­chen Arbeit. Denn nur wenn die insti­tu­tionellen Akteur*innen ihre Ver­ant­wor­tung wahrnehmen und struk­turelle Hür­den abge­baut wer­den, können sich auch Geflüchtete unter Auss­chöp­fung ihres vollen Poten­zials in die Gesellschaft ein­brin­gen.  


Links:

- Infor­ma­tio­nen zum Pro­jekt und Pub­lika­tio­nen: www.perspektiven-studium.ch 
- Mar­i­on Wullschleger, 2016, ETH Blog: https://blogs.ethz.ch/digital-collections/2016/11/04/von-studierenden-fuer-studierende-die-ungarn-fluechtlinge-und-das-engagement-ihrer-mitstudierenden-an-der-eth-zuerich/ 


Ann-Seline Fankhauser ist Co-Pro­jek­tlei­t­erin von „Per­spek­tiv­enStudi­um“. 

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