Von Lea Meister
«Du kannst doch so komische Sprachen und wir haben immer Mühe, mit den Leuten aus dem Osten zu reden, kommst du mit ans Board Meeting?» So oder ähnlich wurde ich dazu eingeladen, an die Delegiertenversammlung der European Students’ Union (ESU) 2010 mitzukommen. Bei der Vorbereitung wurde mir mulmig: Inhalte, von denen ich keine Ahnung hatte, eine bevorstehende dreckige Wahlschlacht und vor allem offenbar ganz viele Leute, die den progressiven VSS furchtbar finden und deren Lieblingshobby Antifeminismus ist. Die Wahlen verlor unser Netzwerk haushoch und bei meinem ersten Wortbeitrag habe ich mich so verhaspelt, dass ich anfing zu heulen. Vor 100 Leuten. Mit dem Osten habe ich kein Wort geredet und war begrenzt nützlich – und doch bekam ich weitere Chancen, an Board Meetings dabei zu sein.
Später fing ich tatsächlich an, mit diesem Osten zu reden. Die Resultate waren unterschiedlich, manch einer war überraschend radikal unterwegs: Der Kollege aus Slovenien liess verlauten, dass sie das Parlament anzünden würden, falls dort Studiengebühren eingeführt würden. Andere Dinge überraschten weniger: Die Gender Sessions waren eine westeuropäische Frauenangelegenheit. Dies schien dem slovakischen Delegierten völlig logisch: «Weisst du, wir mussten so lange auf die Demokratie warten, da ist dieser Genderkram jetzt nicht so wichtig.» Er war einigermassen überrascht, als ich ihm entgegnete, dass die Mauer schon weg war, als bei uns immer noch nicht alle Frauen abstimmen durften. Das gab doch etwas zu denken. Drei Jahre später erzählte er mir ausgiebig und wütend von seinem Engagement gegen ein Gesetz, welches die Ehe verfassungsmässig auf ein Paar von Frau und Mann begrenzen will. Versteht mich nicht falsch: Man muss solchen Dudes nicht applaudieren. Aber sich zu freuen, dass ein Lernprozess ausgelöst wurde, ist durchaus passend.
Dies sind Anekdoten – und doch sagen sie so viel über ESU. Delegierte kommen aus ihrem Kontext, mit einem Netzwerk, mit festen Ideen und mit Vorurteilen. Und irgendwann versuchen wir, sie zu überwinden. Wir finden heraus, dass wir in verschiedenen Kontexten unterschiedlich arbeiten. Dass verschiedene Vorgehensweisen manchmal gerechtfertigt sind und wir andere bei aller Freundschaft für falsch bis daneben halten. Trotzdem: Auf europäischem Niveau können wir nur etwas bewegen, wenn wir zusammenarbeiten, wenn wir von allen Pferdchen der Überlegenheit heruntersteigen und zusammen den Mist aufputzen. ESU hat es geschafft, in allen Bologna-Entscheidungsgremien vertreten zu sein und ernst genommen zu werden. Damit ist es jeder guten Reformistin Pflicht, dort für öffentliche Bildung und Gleichberechtigung aller Studierenden einzustehen. Heute dominieren Studierende die Debatte zu sozialen Fragen im Bolognaprozess.
Für den VSS und mich hat das Miteinander-Reden funktioniert. 2011 hatte Südeuropa noch eine Direktive, dass alle Vorschläge des VSS ungelesen abgelehnt werden müssen. 2014 war man sich dann im Netzwerk des VSS nicht so sicher, ob ich in den Vorstand von ESU gehen sollte, war ich doch immer übermässig verständig gegenüber dem oder der politischen Gegner*in. Wir gewannen Abstimmungen, beeinflussten Positionen – und ja, wir mussten Kompromisse machen, die teilweise zu weit gingen. 2016 wurde ich mit 71 von 73 Stimmen Präsidentin. Ein VSS-Alumni gratulierte mit den Worten: «Wir sind Chair!». Ob wir das eigentlich jemals wollten?
(Die Internationale habe ich trotzdem bei jeder Gelegenheit mitgesungen.)
Link:
– European Students’ Union (ESU): www.esu-online.org
Lea Meister war im VSS 2010–2013 als Co-Präsidentin der Kommission für Internationales und Solidaritätsarbeit (CIS) und 2013–2014 als Vorstandsmitglied tätig. Danach war sie in der European Students‘ Union (ESU) 2014–2015 Mitglied des Vorstands, 2015–2016 Vizepräsidentin und schlussendlich 2016–2017 Präsidentin.